Moral und Zeitordnung

Kapitel 49 der Minima Moralia beschaeftigt sich mit einem Thema, das der gute Theo nicht oft in den Mund nimmt.
Dass er doch ganze vier Seiten ueber Liebe schreibt, wundert mich nicht mehr, seit ich seine Herangehensweise kenne.

Die Psychologie und Literatur zum Thema tut er im ersten Satz ab, und erklaert sein Thema zur bisher unbeachteten „Selbstverstaendlichkeit[…] Das ist das Phaenomen des Besetztseins: dass ein geliebter Mensch sich uns nicht versagt wegen innerer Antagonismen und Hemmungen, wegen zuviel Kaelte oder zuviel verdraengter Waerme, sondern weil bereits eine Beziehung beseteht, die eine neue ausschliesst.“
Beim Lesen dieser Zeilen lief ich unverzueglich Gefahr, Adornos Liebesleben zu Psychologisieren, oder zumindest opportun an eine unglueckliche Liebe Theos zu einer ‚vergebenen‘ zu halluzinieren. Vielleicht haette er ohne Brille und Abneigung gegen Jazz mehr Pech im Spiel gehabt. Aber da diese Spekulationen erstens dem Thema fremd sind und ich zweitens keine biografische Notwendigkeit solcher Nachforschungen sehe, beschaeftige ich mich doch lieber weiter mit den Auswirkungen auf mein Bewusstsein.

„Die abstrakte Zeitordnung spielt in Wahrheit die Rolle, die man der Hierarchie der Gefuehle zuschreiben will.“

Das ist mal wieder typisch Theo; Gedanken erfasst, polemisiert, und uebers Ziel hinaus geschossen. So wie mein groszer Zwilling, der in der Schule noch bei jeder Gedichtsinterpretation auf die Nase fliegen wird, weil er sich in allzu steilen Thesen verrennt.
Adorno vergebe ich solche Schoenheitsfehler nicht aufgrund seier Titel oder Leistungen. Dass ‚alte‘ Bekanntschaften den ’neuen‘ vorgezogen werden, ist privatoekonomisch verstaendlich und nicht selten, jedoch keinesfalls zwingend.
Mir kommt das schlechterdings sehr bekannt vor. Auch wenn ich das negative Urteil nicht absolut teile, habe ich bemerkt, dass in meiner Beziehung das Neue, nichtvorhandene, mich faszinierte, waehrend fuer die Beziehung mitunter geistige Arbeit vonnoeten war, um Gefuehle dort zu erkennen, wo die Zeit herrschte.

„Es liegt im Vergebensein, so geht es weiter, auch ein ganz Zufaelliges, das dem Anspruch der Freiheit durchaus zu widersprechen scheint.“
So wird meine Skepsis gegenueber Monogamie aufklaererisch reformuliert. Andererseits bleibt die Dialektik der freien Liebe ein offenes Forschungsfeld und Adornos Ueberlegungen dazu scheinen vom realexistierenden sozialismus seiner Zeit beeinflusst, wenn er schreibt:
„Selbst und gerade in einer von der Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft wuerden schwerlich Regeln darueber Wachen, in welcher Reihenfolge man Menschen kennenlernt. Waere es anders, so muesste ein solches Arrangement dem unertraeglichsten Eingriff in die Freiheit gleichkommen.“
Es liegt an der Dichte Adornos Texte und meinem Unvermoegen meine Gedanken ohne umfangreiche Darstellung der seinen darzustellen, dass ich hier kaum Auslassungen vornehmen kann. Adornos Beschreibung von der tendenziellen Bosheit des Partnerwechels aufgrund der Annullierung der Vergangenheit gemeinsamen Lebens brauch ich nicht zu zitieren, denn das erscheint mir als Binsenweisheit.
„Die Irreversibilitaet der Zeit gibt ein objektives moralisches Kriterium ab. Aber es ist dem Mythos verschwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr gesetzte Ausschliesslichkeit entfaltet sich ihrem eigenen Begriff nach zur ausschliessenden Herrschaft hermetisch dichter Gruppen, schliesslich der grossen Industrie.“
Nun sind laut Adorno Fremdwoerter „die Juden der Sprache“, die zu bekaempfen mir ein Anliegen ist;
Eine neue Bekanntschaft der alten vorzuziehen sei boese. Das wiederum sei wie ein Mythos, denn neu und alt habe erstmal keine vernuenftigen Gruende zum Bessersein. Auch die Zeit als Schicksal ist ein Eingriff in die Freiheit, und das Beharren auf einer Beziehung wegen ihrer Dauer ist kein Argument.
Die jeweils anwesende ‚dichte hermetische Gruppe‘ ist dann Beziehung, Dorf, Szene, Nation, und schliesslich die industriell Verfasstheit der Gesellschaft. Diese beherrsche die Beziehungen wenigstens insofern, dass ihr Zeitideal dem Menschen Freiheit nimmt, aehnlich, wie die Beziehungen das tun. Meines Erachtens meint er damit keinen autoritaeren Zwang, sondern die Struktur, dass man das Bauernmaedel aus Kambodja nicht kennenlernen wird, weil es zeitlich, raeumlich zu weit weg lebt, keine Einreiseerlaubnis bekommt, und auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt ist.

Soweit holt er aus, um dann einen Ausflug in die Romantik zu machen.
„Nichts ist ruehrender als das Bangen der Liebenden, die Neue koennte Liebe und Zaertlichkeit, ihren besten Besitz, eben weil sie sich nicht besitzen lassen, auf sich ziehen, gerade vermoege jener Neuheit, die vom Vorrecht des Aelteren selber hervorgebracht wird.“
Das Neue wird insofern hervorgebracht, dass es ohne den Begriff des Alten logisch kein Neues gaebe. Ein Absatz, dessen Inhalt man vergisst, sobald Adornos Folgerungen einem die Zunge zergehen lassen.
„Aber von diesem Ruehrenden, mit dem zugleich alle Waerme und alles Geborgensein zerginge, fuehrt ein unaufhaltsamer Weg ueber die Abneigung des Bruederchens gegen den Nachgeborenen und die Verachtung des Verbindungsstudenten fuer seinen Fuchs[?] zu den Immigrationsgesetzen, die im sozialdemokratischen Australien alle Nicht-Kaukasier draussen halten, bis zur faschistischen Ausrottung der Rasseminoritaet, womit dann in der Tat Waerme und Geborgenheit ins Nichts explodieren.
[ich finde die radikalen Beispiele passend, denn sie ermoeglichen literarisch und philosophisch die Beschreibung der Totalitaet, die er sodann mit Nietzsche illustriert.]
Nicht nur sind, wie Nietzsche es wusste, alle guten Dinge einmal boese gewesen: auch die Zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft ueberlassen, haben die Tendenz in der unausdenkbaren Roheit sich zu vollenden.
Also wisse, wer aus Liebe Eifersucht erfaehrt, befindet sich auf einem ‚unaufhaltsamen Weg‘ nach Auschwitz.
Warum? Gute Frage. Weil der Glaube an die Zeitordnung nicht nur die Beziehung beherrschen kann, sondern ebenso den Glauben an die Gerechtigkeit des Hier und Jetzt, was wiederum in psychopathischer Manier bis zum Mord als Abwehr des Neuen fuehre? Das geht steil.

“ Historisch ist der Zeitbegriff selber auf Grund der Eigentumsverhaeltnisse gebildet.“
Der alte Marx wirkt in diesem Kontext wie leichte Lese.
„Was ist, wird in seinem moeglichen Nichtsein erfahren[…] Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen.“
Auch das wird noch in jeder Seifenoper thematisiert, mit der moralischen Aufforderung, die Liebe wirklich zu zeigen, da sie sonst keine wahre waere. Da waren noch die Romantiker mir näher, wenn sie ihre Liebe um die grössten Hindernisse herum beschrieben, deren Lösung mit der Lösung der Tragödie verbunden war. Wenn das Plumpe sich-stetig-lieben den ganzen Inhalt der Liebe ausmacht, wäre es so langweilig wie realitätsfern.

„Waeren Menschen kein Besitz mehr, so koennten sie nicht mehr vertauscht werden. Die wahre Neigung waere eine, die den andern spezifisch anspricht, an gliebte Zuege sich haftet und nicht ans Idol der Persoenlichkeit, die Spiegelung von Besitz.“
Hier keimt Hoffnung fuer die richtige Liebe im Falschen auf:
Das Spezifische ist nicht ausschliesslich: ihm fehlt der Zug zur Totalitaet.“
In diesem Sinne moechte ich auch meine Liebe zu Euch verstanden wissen. Doch waere Theo nicht Theo, wenn dies absolut gaelte:
„Aber in anderem Sinne ist es doch ausschliesslich: indem es die Substitution der unloesbar an ihm haftenden Erfahrung – zwar nicht verbietet, aber durch seinen Begriff gar nicht erst aufkommen laesst.“
Wenn ich Euch also liebte, wuerde ich dadurch die neue Liebe zu Shuky und seinen Freunden ausschliessen, wenn ich aber das Hier und Jetzt lieben lernte, negierte ich die schoenen Erfahrungen von Gestern, die vergangene Liebe ueberhaupt.

„Der Schutz des ganz Bestimmten ist, dass es nicht wiederholt werden kann, und eben darum duldet es das andere.“
So duldet meine ganz bestimmte Neigung hier die einzigartigen Erfahrungen, die ich mit Euch machen durfte, im Versuch keinerlei Skala der Zuneigung zu zu lassen, die besagen würde; ‚hier gefällts mir besser.

„Zum Besitzverhaeltnis am Menschen, zum ausschliessenden Prioritaetsrecht, gehoert genau die Weisheit: Gott, es sind doch alles nur Menschen, und welcher es ist, darauf kommt es gar nicht so sehr an.“
Hier feiert Adorno sein Ideal des Subjekts der ganz bestimmten Erfahrung gegen die Austauschbarkeit der objektivierten Liebesempfaenger, denn
„Neigung, die von solcher Weisheit nichts wuesste, brauchte Untreue nicht zu fuerchten, weil sie gefeit waere vor der Treulosigkeit.“
Punkt Ende. Der gutste Theo schient mir tatsaechlich ungluecklich verliebt. Und seine Hoffnung ist die zeit- und koerper-lose Liebe.

Ich wiederum finde die ‚Objektivierung der Partner‘ hinsichtlich der Treue und Besitzanspruch hatte schon zu Adornos Zeiten eine pragmatische Alternative gefunden;

wer kein Mal mit dem selben pennt.
der vielleicht den Moment verkennt
und Gefuehle kaum erkennt,
doch seine Wuensche hier und jetzt benennt.

Ich gebe mich der Zeit hier hin,
wann immer ich zufrieden bin,
wer immer mich mit zu sich nimmt.
dem Schenke ich dann den Moment.

Was nicht wiederholt werden kann,
duldet als ganz Bestimmtes auch das andere.
Drum lass ich Menschen an mich ran,
ob Subjekt, Objekt, Hauptsache spannende.

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